Die Bundesregierung hat im Oktober 2025 eine wegweisende Änderung des Medizinal-Cannabisgesetzes (MedCanG) auf den Weg gebracht. Die neuen Regelungen sollen den rasant gewachsenen Markt für medizinisches Cannabis regulieren und gleichzeitig die Patientensicherheit erhöhen. Was bedeutet das für Patienten, Ärzte und professionelle Anbauer? Ein umfassender Überblick über die aktuellen Entwicklungen.

Der Cannabis-Boom: Zahlen, die aufhorchen lassen
Die Entwicklung des Medizinalcannabis-Marktes in Deutschland zeigt beeindruckende Wachstumszahlen. Nach Angaben des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte ist der Import von Cannabisblüten zu medizinischen Zwecken vom ersten zum zweiten Halbjahr 2024 um erstaunliche 170 Prozent gestiegen. Im ersten Halbjahr 2025 erreichten die Importe sogar eine Steigerung von über 400 Prozent – von etwa 19 auf rund 80 Tonnen.
Diese Zahlen stehen jedoch in einem deutlichen Missverhältnis zu den Verordnungen über die gesetzlichen Krankenversicherungen, die im gleichen Zeitraum lediglich um neun Prozent zunahmen. Diese Diskrepanz lässt aufhorchen: Der Großteil des Wachstums scheint auf Selbstzahler mit Privatrezepten zurückzugehen, die Cannabis über telemedizinische Plattformen beziehen.
„Medizinalcannabis ist ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel und kein Produkt zu reinen Genusszwecken“, betont Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU). Diese klare Positionierung unterstreicht die Notwendigkeit der neuen Regelungen.

Die neuen Regelungen im Detail: Was ändert sich konkret?
Persönlicher Arztkontakt wird Pflicht
Eine der zentralen Änderungen betrifft die Verschreibungspraxis. Künftig dürfen Cannabisblüten zu medizinischen Zwecken nur noch nach einem persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient verschrieben werden. Dies kann in der Praxis oder bei einem Hausbesuch stattfinden. Reine Videosprechstunden sind für die Erstverordnung nicht mehr ausreichend.
Bei Folgeverschreibungen gelten ebenfalls strengere Vorgaben: Innerhalb von vier Quartalen muss mindestens ein persönlicher Vor-Ort-Kontakt oder Hausbesuch erfolgen. Innerhalb dieses Zeitraums können Folgeverordnungen dann weiterhin per Videosprechstunde ausgestellt werden. Diese Regelung soll sicherstellen, dass Ärzte die gesundheitliche Situation ihrer Patienten, mögliche Risiken und Wechselwirkungen sorgfältig und regelmäßig überprüfen können.
Versandverbot: Cannabis nur noch in der Apotheke
Eine weitere einschneidende Änderung betrifft den Vertriebsweg. Der Versandhandel mit Medizinalcannabis über Online-Apotheken wird komplett verboten. Patienten müssen künftig persönlich in die Apotheke kommen, um ihre Cannabismedikation zu erhalten. Dort erhalten Sie eine umfassende Beratung über Anwendung, Nebenwirkungen, Wechselwirkungen und die sichere Aufbewahrung.
Eine wichtige Ausnahme gibt es jedoch: Der Botendienst von Apotheken bleibt weiterhin erlaubt. Dies ist besonders für Patienten mit eingeschränkter Mobilität von Bedeutung. In diesen Fällen kann pharmazeutisches Personal die Medikamente direkt nach Hause bringen und vor Ort die notwendige Beratung durchführen.

Hintergründe der Gesetzesänderung: Warum jetzt?
Die Bundesregierung reagiert mit diesen Maßnahmen auf eine besorgniserregende Entwicklung im Markt. Zahlreiche Internet-Plattformen hatten ein Geschäftsmodell entwickelt, bei dem Konsumenten ohne direkte Arztkonsultation, lediglich per Fragebogen-Check, ein Rezept erhalten konnten. Anschließend konnten sie sich die gewünschte Cannabis-Sorte aussuchen und direkt nach Hause senden lassen.
Diese Praxis warf mehrere Probleme auf:
- Fehlende medizinische Indikation: Ohne persönlichen Arztkontakt konnte die tatsächliche medizinische Notwendigkeit oft nicht angemessen geprüft werden
- Mangelnde Patientensicherheit: Wichtige Aspekte wie Vorerkrankungen, Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten oder individuelle Risikofaktoren konnten nur unzureichend berücksichtigt werden
- Missbrauchspotenzial: Die niedrigschwellige Verfügbarkeit begünstigte möglicherweise den nicht-medizinischen Konsum
- Qualitätskontrolle: Die fehlende persönliche Beratung in der Apotheke verhinderte eine angemessene Aufklärung über Dosierung und Anwendung

Auswirkungen auf die Branche: Chancen für professionelle Anbauer
Die neuen Regelungen haben weitreichende Folgen für die gesamte Cannabis-Branche in Deutschland. Während Online-Plattformen ihr Geschäftsmodell grundlegend überdenken müssen, ergeben sich für andere Marktteilnehmer neue Perspektiven.
Professionelle Indoor-Anbauer im Vorteil
Die strengeren Qualitäts- und Kontrollstandards könnten professionellen Indoor-Anbauern zugutekommen. Mit der erhöhten Regulierung steigen auch die Anforderungen an die Produktqualität, Reinheit und Standardisierung von Medizinalcannabis. Hier sind moderne Indoor-Anlagen klar im Vorteil, da sie optimale und konstante Bedingungen gewährleisten können.
Für professionelle Anbaubetriebe bedeutet dies:
- Höhere Nachfrage nach qualitativ hochwertigem, standardisiertem Medizinalcannabis
- Verstärkte Bedeutung von GMP-zertifizierten Produktionsstätten
- Wachsende Anforderungen an Dokumentation und Nachverfolgbarkeit
- Bedarf an technisch ausgereiften Klimatisierungs- und Kontrollsystemen

Was bedeutet das für Patienten?
Für Patienten, die auf Medizinalcannabis angewiesen sind, bringen die neuen Regelungen sowohl Herausforderungen als auch Vorteile mit sich:
Vorteile der Neuregelung
- Verbesserte medizinische Betreuung: Durch den verpflichtenden persönlichen Arztkontakt ist eine bessere individuelle Anpassung der Therapie möglich
- Erhöhte Sicherheit: Die persönliche Beratung in der Apotheke minimiert Anwendungsfehler und Risiken
- Qualitätskontrolle: Strengere Überwachung kann zu einer besseren Produktqualität führen
- Ganzheitliche Behandlung: Regelmäßige Arztbesuche ermöglichen eine bessere Verlaufskontrolle
Herausforderungen für Patienten
- Erhöhter Aufwand: Persönliche Arzt- und Apothekenbesuche erfordern mehr Zeit und Mobilität
- Zugangshürden: Besonders in ländlichen Regionen könnte der Zugang erschwert werden
- Wartezeiten: Möglicherweise längere Wartezeiten für Termine
- Diskretionsverlust: Der persönliche Apothekenbesuch ist weniger anonym als der Versandhandel

Die Rolle der Apotheken: Neue Verantwortung
Apotheken nehmen in der neuen Regelung eine zentrale Position ein. Sie werden zur einzigen legalen Bezugsquelle für Medizinalcannabis und tragen damit eine große Verantwortung. Jede Apotheke kann die benötigten Cannabisblüten weiterhin über den Großhandel oder über Direktlieferanten beziehen.
Die Apotheken müssen sich auf folgende Anforderungen einstellen:
- Umfassende Schulung des Personals im Bereich Medizinalcannabis
- Sicherstellung der Verfügbarkeit verschiedener Cannabis-Sorten
- Aufbau von Beratungskompetenzen für diese spezielle Patientengruppe
- Organisation von Botendiensten für immobile Patienten
- Anpassung der Lagerkapazitäten und Sicherheitsvorkehrungen
Technische Anforderungen an moderne Anbauanlagen
Mit den verschärften Regularien steigen auch die Anforderungen an die Produktionsqualität von Medizinalcannabis. Moderne Indoor-Anbauanlagen müssen höchste Standards erfüllen, um pharmazeutische Qualität zu gewährleisten.
Klimatisierung und Luftführung als Schlüsselfaktoren
Eine präzise Kontrolle der Umgebungsbedingungen ist für die Produktion von hochwertigem Medizinalcannabis unerlässlich. Folgende technische Aspekte sind dabei von besonderer Bedeutung:
- Temperaturkontrolle: Konstante Temperaturen zwischen 20-26°C in der Wachstumsphase und 18-24°C in der Blütephase
- Luftfeuchtigkeitsmanagement: Präzise Steuerung der relativen Luftfeuchtigkeit (40-70% je nach Wachstumsphase)
- CO₂-Anreicherung: Kontrollierte CO₂-Zufuhr zur Ertragssteigerung (1000-1500 ppm)
- Luftzirkulation: Gleichmäßige Luftverteilung zur Vermeidung von Mikroklimata
- Geruchskontrolle: Effektive Filterung zur Vermeidung von Emissionen
Hygiene und Kontamination: Null-Toleranz-Politik
Medizinalcannabis unterliegt strengen mikrobiologischen Grenzwerten. Die Vermeidung von Kontaminationen durch Schimmelpilze, Bakterien oder Pestizide hat oberste Priorität. Technische Lösungen hierfür umfassen:
- HEPA-Filtration der Zuluft zur Vermeidung von Sporeneintrag
- Überdruck in kritischen Bereichen
- Regelmäßige Luftwechselraten (15-30 Mal pro Stunde)
- Separate Luftkreisläufe für verschiedene Produktionsbereiche
- Kontinuierliche Überwachung der Luftqualität

Der Markt im Wandel: Prognosen und Perspektiven
Die Gesetzesänderung markiert einen Wendepunkt in der Entwicklung des deutschen Cannabis-Marktes. Experten erwarten folgende Entwicklungen:
Kurzfristige Auswirkungen (6-12 Monate)
- Rückgang der Verschreibungszahlen durch höhere Hürden
- Marktbereinigung bei Online-Plattformen
- Verstärkte Nachfrage nach Schulungen für medizinisches Personal
- Anpassung der Logistikketten
Mittelfristige Perspektiven (1-3 Jahre)
- Konsolidierung des Marktes auf seriöse Anbieter
- Qualitätssteigerung der verfügbaren Produkte
- Aufbau spezialisierter Cannabis-Kompetenzzentren
- Verstärkte Forschung zu medizinischen Anwendungen
Langfristige Entwicklung (3-5 Jahre)
- Etablierung Deutschlands als führender Markt für medizinisches Cannabis in Europa
- Entwicklung neuer pharmazeutischer Cannabis-Präparate
- Integration in die Regelversorgung bei bestimmten Indikationen
- Mögliche Lockerungen bei bewährten Therapieformen

Internationale Perspektive: Deutschland im Vergleich
Im internationalen Vergleich positioniert sich Deutschland mit den neuen Regelungen im mittleren Bereich zwischen sehr liberalen Märkten wie Kanada und restriktiven Systemen wie in vielen asiatischen Ländern. Die deutsche Herangehensweise zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:
- Medizinischer Fokus: Klare Trennung zwischen medizinischer und Freizeitnutzung
- Qualitätsorientierung: Hohe Standards für Produktion und Vertrieb
- Patientenschutz: Betonung der ärztlichen Verantwortung
- Kontrollierte Liberalisierung: Schrittweise Öffnung mit Sicherheitsmechanismen
Diese ausgewogene Herangehensweise könnte Deutschland zu einem Modell für andere europäische Länder machen, die ähnliche Regulierungen erwägen.

Praktische Tipps für betroffene Akteure
Für Patienten
- Suchen Sie frühzeitig einen auf Cannabis spezialisierten Arzt in Ihrer Nähe
- Dokumentieren Sie Ihre Beschwerden und den Therapieverlauf sorgfältig
- Informieren Sie sich über Apotheken mit Cannabis-Expertise in Ihrer Region
- Klären Sie mit Ihrer Krankenkasse die Kostenübernahme
- Nutzen Sie bei Mobilitätseinschränkungen den Apotheken-Botendienst
Für Anbauer und Produzenten
- Investieren Sie in GMP-konforme Produktionsanlagen
- Implementieren Sie lückenlose Qualitätskontrollsysteme
- Bauen Sie Partnerschaften mit Apotheken und Großhändlern auf
- Fokussieren Sie sich auf standardisierte, pharmazeutische Qualität
- Planen Sie langfristig und nachhaltig
Ein notwendiger Schritt zur Professionalisierung?
Die Änderung des Medizinal-Cannabisgesetzes markiert einen Meilenstein in der Entwicklung des deutschen Cannabis-Marktes. Während die neuen Regelungen zunächst als Einschränkung wahrgenommen werden mögen, könnten sie langfristig der Etablierung eines seriösen, patientenorientierten Medizinalcannabis-Marktes dienen.
Die Bundesregierung verfolgt mit den Maßnahmen ein klares Ziel: „Wir müssen verhindern, dass sich aus medizinischen Ausnahmefällen ein unkontrollierter Markt entwickelt“, so Gesundheitsministerin Nina Warken. Gleichzeitig soll sichergestellt werden, dass Menschen mit schweren Erkrankungen weiterhin die Behandlung erhalten, die sie benötigen.
Für professionelle Anbauer und Produzenten bieten die verschärften Regelungen die Chance, sich als Qualitätsanbieter zu positionieren. Die Investition in hochwertige Produktionsanlagen und Qualitätssicherungssysteme wird sich langfristig auszahlen. Der Markt entwickelt sich weg von einem unregulierten Boom hin zu einem nachhaltigen, qualitätsorientierten Wirtschaftszweig.
Die kommenden Monate werden zeigen, wie sich der Markt an die neuen Gegebenheiten anpasst. Sicher ist: Der deutsche Medizinalcannabis-Markt steht vor einer Phase der Konsolidierung und Professionalisierung, die letztendlich allen Beteiligten – Patienten, Ärzten, Apotheken und seriösen Produzenten – zugutekommen wird.

Ausblick: Was kommt als Nächstes?
Der Gesetzentwurf muss noch den parlamentarischen Prozess durchlaufen. Die Lesungen im Bundestag stehen noch aus, ebenso die Einbindung des Bundesrats. Experten rechnen damit, dass das Gesetz im ersten Quartal 2026 in Kraft treten könnte.
Parallel dazu arbeiten verschiedene Fachverbände an Leitlinien und Standards für die praktische Umsetzung. Die kommenden Monate werden entscheidend sein für die Ausgestaltung der Details und die Vorbereitung aller Beteiligten auf die neuen Anforderungen.
Eines ist sicher: Die deutsche Cannabis-Branche steht vor tiefgreifenden Veränderungen. Wer sich frühzeitig darauf einstellt und in Qualität investiert, wird von der Professionalisierung des Marktes profitieren.